Arnulf Clauder


44 Jahre ist es her, als die von dem christdemokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer geprägte, 20 Jahre währende Deutschlandpolitik, deren Anliegen es war, den Anspruch der Bundesregierung, das deutsche Volk allein zu vertreten, sich wandelte zu einer so genannten neuen Ostpolitik.

„Neu“ war die von dem seit der Wahl 1969 regierenden sozial-demokratischen Kanzler Willy Brandt dem deutschlandpolitischen Handeln gegebene Richtlinie, dass die DDR hinfort nicht mehr nur als die von der Sowjetunion okkupierte Besatzungszone hat bewertet und behandelt werden sollen, sondern auch als eine aus dieser gewordene staatliche Existenz. Der Wandel war die Umorientierung der bisher weltweit akzeptierten Politik der Nichtanerkennung der DDR in eine Nichtauslands-Anerkennung, die es den zukünftigen Bundesregierungen hat ermöglichen sollen, auf einer Ebene der „innerdeutschen Beziehungen“ mit der DDR Gespräche zu führen und Verträge zu schließen.

Diese Umorientierung ist damals von ganz aussergewöhnlich dramatischen, öffentlichkeitswirksamen Disputen zwischen deren Gegnern und Befürwortern begleitet gewesen, die sich beide berufen haben auf das Grundgesetz und Diskussionen zur Frage der Verfassungsmässigkeit des herkömmlichen und des sich ändernden deutschlandpolitischen Handelns ausgelöst haben.

Die nachfolgenden Texte geben einen Einblick in die Art und Weise, wie damals gedacht und diskutiert worden ist. Es sind Darstellungen jener damals durchgeführten Arbeitstagungen, die unter dem von mir angedachten Thema „Deutschlandrecht und Deutschlandpolitik“ als Lerbacher Deutschlandseminare Eingang gefunden haben auch in die einschlägige Literatur.

Ich beginne mit dem dritten Seminar, weil dieses den Rahmen gab für ein Kamingespräch, das eine Art Rollenspiel hat sein sollen, zu dem ich zwei Staatsrechtslehrer eingeladen habe, die ich mir vorgestellt hatte als Repräsentanten der beiden einander gegenüber stehenden Positionen:
Dieter Blumenwitz, Professor an der Universität Augsburg, für die hergebrachten Bemühungen um das Offenhalten der deutschen Frage durch ein Festhalten an dem im Grundgesetz festgeschrieben Auftrag, die Einheit Deutschlands zu wahren,
Martin Kriele, Professor an der Universität Köln, für den Entwurf einer Annäherung an die von der DDR geforderte Anerkennung als einen möglichen ersten Schritt auf dem Wege zu der von dem Grundgesetz als Verfassungsziel erhofften Wiedervereinigung.

Dieses Kamingespräch hat Früchte getragen. Es haben die beiden Professoren mich um die von der Teilnehmerin Dr. Siegrid Krülle vorbereiteten Protokolle gebeten, um sie mit ihren politischen Freunden zu diskutieren:
Dieter Blumenwitz mit Franz Josef Strauß,
Martin Kriele mit Willy Brandt.

Wie mir erst jüngst noch Franz-Christoph Zeitler (der bisherige Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, heute Honorarprofessor an der Universität Augsburg), damals ein Mitstreiter des im Jahre 2005 so unverhofft verstorbenen Blumenwitz, bestätigte, sind es diese so intensiven Diskussionen gewesen, die den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Goppel bewogen haben, grünes Licht für die Verfassungsklage des Freistaates zu geben.

Dieser „Gang nach Karlsruhe“ war mehr, als ich damals habe erwarten können:
Dieter Blumenwitz wurde von Alfons Goppel und Martin Kriele von dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt als die jeweiligen Prozessbevollmächtigten ihrer Regierungen (also der bayerischen Staatsregierung als Antragstellerin und der Bundesregierung als Antragsgegnerin) in dem bis zum 31. Juli 1973 anhängig gewesenen Verfassungsgerichtsverfahren bestellt.

Früchte getragen hat jenes Kamingespräch aber auch in der Sache selbst. Das von dem 2. Senat einstimmig gesprochene Urteil hat weder einen Sieger noch einen Besiegten gekannt. Es hat, zum einen, Ja gesagt zu der von der Bundesregierung getroffenen Entscheidung für die Anerkennung der Staatlichkeit der DDR. Zum anderen aber auch deren Wertung der DDR als einen gleichwohl nicht ausländischen Staat zu einem tragenden Grundsatz ihrer Deutschlandpolitik erklärt.

Mit der von dem Verfassungsgericht gesprochenen Beschreibung dieser Staatlichkeit der DDR als ein von innerdeutschen Grenzen umschlossener, dem Geltungsbereich des Grundgesetzes erst noch beizutretender Teil des als Bundesrepublik fortbestehenden deutschen Staates und dem Festhalten an der vom Grundgesetz vorgegebenen gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit hat es strikt Schranken gesetzt. Damit hat es jede, wie auch immer geartete Anerkennung der DDR als einen die deutsche Frage offen haltenden Vorgang erklärt – eine Auslegungsregel, die die von Blumenwitz für den Freistaat Bayern vertretenen Vorbehalte wirksam werden ließ.

Vergeblich sind in den Jahren darauf meine Bemühungen gewesen, diese Vorgaben des Bundesverfassungsgericht im Bewusstsein der Öffentlichkeit wach zu halten. Sie waren auf die Möglichkeiten einer Mitarbeit wie einer Referententätigkeit im Kuratorium Unteilbares Deutschland, in Seminaren der Konrad–Adenauer-Stiftung und unter anderen im Gesamtdeutschen Instituts des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen beschränkt und haben auch dort nicht nur Freunde gefunden. Es fehlte der Politik der Mut, das Urteil des Verfassungsgerichts in seiner vollen Bedeutung zur Anwendung zu bringen: mit einer Einladung an die durch den Zusammenschluss der mitteldeutschen Länder zum Staat gewordenen, dem Bund der westdeutschen Länder nicht beigetretenen DDR, sich diesem zu assoziieren, indem sie, dem Artikel 144 Absatz 2 des Grundgesetzes folgend ähnlich wie das Land Berlin, nicht stimmberechtigte Vertreter in Bundestag und Bundesrat entsendet.

Das änderte sich, als die Wiedervereinigung Wirklichkeit wurde: Genau so, wie das Bundesverfassungsgericht sie vorgezeichnet hatte: über das Bewusstsein von der nach wie vor fortbestehenden gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit, von der sich die Botschaftsflüchtlinge 1989 haben leiten lassen, bis hin zu einer freien Selbstbestimmung der DDR, so wie sie in der Volkskammerwahl im März 1990 hat verwirklicht werden können, und von da aus durch den Beitritt der DDR zu dem bisherigen Geltungsbereich des Grundgesetzes, so wie er mit der Zustimmung der UdSSR mit Wirkung ab dem 3. Oktober 1989 vereinbart werden konnte.

Dass das so hat geschehen können, ist jenen Bemühungen zu verdanken, mit denen Dieter Blumenwitz die Saat, die die Lerbacher Deutschlandseminare legten, reifen ließ und auf diesem Boden das Urteil vom 31. Juli 1973 erstritt. Ihm gebührt Dank für seine Hartnäckigkeit, mit der er für das Offenhalten der deutschen Frage und für das Festhalten an der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit stritt. Er hat das Entscheidende dafür getan, dass die Länder der DDR kein Ausland wurden. Wie wäre die Geschichte ohne das Bewusstsein der Menschen verlaufen, ein anerkannt Deutscher zu sein? Hätte es eine Wiedervereinigung, so wie sie kam, gegeben?

Es ist dieser Dank an Dieter Blumenwitz, den ich mit der Zusammenstellung der nachfolgenden Texte wach halten möchte.

Arnulf Clauder, Januar 2013